Kapitel 1 Seite 9-10
Alle Geschichten handeln von der Liebe, sagte mein Onkel. Die großen und die kleinen, die schönen und die nicht so schönen, jene, die uns traurig machen, und jene, die uns trösten sollen.
Wir saßen in der Küche auf dem Boden, draußen war es dunkel und etwas kühler geworden. Mein Onkel begann zu frieren, ich stand auf, holte eine Decke, legte sie ihm um die Schultern und setzte mich wieder.
Vor uns knisterte ein Feuer. Ich schaute in die Glut und hörte ihm zu, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob ich alles richtig verstand, was er mir erzählte.
Ob die Geschichten vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden in fernen, fremden Ländern erdacht wurden, erklärte er, oder gestern Abend in einer kleinen Hütte auf der anderen Seite des Flusses: Alle großen Erzählungen kennen nur ein Thema. Die Sehnsucht des Menschen nach der Liebe.
Hörst du, Bo Bo?
Ich nickte.
Es gibt keine größere Kraft, fuhr er mit ruhiger Stimme fort, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht. Die Zahl ihrer Gesichter und Farben, ihrer Sprachen und Formen ist endlos. Deshalb hat die Dichter auch nie etwas anderes beschäftigt und wird sie auch nie etwas anderes beschäftigen. Und das ist auch gut so, denn wir haben die Neigung, das zu vergessen.
Er bemerkte mein verwundertes Gesicht, beugte sich zu mir, als wolle er mir ein Geheimnis anvertrauen – und schwieg dann doch.
Das kannte ich von ihm schon. In den vergangenen Wochen hatten wir viele Abende zusammen am Feuer gesessen, und er hatte mir Geschichten erzählt, die irgendwann einfach abbrachen.
Von der Zeit, als er klein war und die Welt noch groß, weil es in Kalaw keine Autos und keine Fernseher gab.
Von seiner Frau, die viel zu jung zum Sterben gewesen war.
Von seiner Mutter, die ihn gelehrt hatte, dass man Entfernungen nicht mit Schritten überwindet.
Und von einem Jungen, der angeblich Schmetterlinge an den Klängen ihrer Flügelschläge erkennen konnte.
Vieles davon klang rätselhaft. Kein Mensch kann Schmetterlinge fliegen hören. Aber es war nie langweilig, und ich folgte seinen Worten gern.
Was ist nur wieder mit mir los, hörte ich ihn murmeln. Wo soll das bloß enden? Worüber rede ich? Was kann ein Junge in deinem Alter von der Liebe wissen?
Was sollte ich ihm darauf antworten? Was weiß ein Zwölfjähriger von der Liebe?
Nichts.
Zumindest nicht viel.
Oder doch mehr, als er ahnt?
Unser Gespräch endete an dem Abend mit seiner Frage, und ich war enttäuscht. Ich hätte ihm gern noch länger zugehört, mein Onkel hat eine wunderschöne Stimme. Wenn er lange spricht, vergesse ich alles, was mir das Leben manchmal schwer macht. Wie früher, als er mir jeden Abend Lieder vorsang, bis ich eingeschlafen war.